Artikel 124b ZGB: Abweichung von der hälftigen Teilung der während der Ehe angesparten Freizügigkeitsguthaben
Im schweizerischen Recht gilt grundsätzlich das Prinzip, dass die während der Ehe angesparten Freizügigkeitsguthaben im Falle einer Scheidung hälftig aufgeteilt werden. Artikel 124b des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) sieht jedoch Ausnahmen vor, die es dem Gericht ermöglichen, von dieser hälftigen Teilung abzuweichen, wenn besondere Umstände dies rechtfertigen.
1. Das Prinzip der hälftigen Teilung der Freizügigkeitsguthaben
Das System der beruflichen Vorsorge beruht auf der Vorstellung, dass beide Ehegatten während der Ehe gemeinsam zur Altersvorsorge beitragen – sei es durch Erwerbstätigkeit oder durch gegenseitige Unterstützung im Haushalt. Deshalb sieht das Gesetz im Scheidungsfall eine gleichmässige Aufteilung der während der Ehe erworbenen Vorsorgeguthaben vor, um eine faire und gerechte Regelung zu gewährleisten.
2. Gründe für eine Abweichung gemäss Artikel 124b ZGB
Artikel 124b ZGB schafft eine Ausnahme von diesem Grundsatz, indem er dem Gericht die Möglichkeit gibt, von der hälftigen Teilung der Freizügigkeitsguthaben abzuweichen. Diese Abweichung kann dann in Betracht gezogen werden, wenn eine strikt hälftige Aufteilung zu einem unangemessenen oder unbilligen Ergebnis führen würde.
Zu den wichtigsten Gründen, die eine solche Abweichung rechtfertigen können, gehören:
- Geringerer Vorsorgebedarf eines Ehegatten: Falls ein Ehegatte bereits über ausreichende finanzielle Sicherheit im Alter verfügt (z. B. durch eine hohe private Vorsorge oder andere Vermögenswerte), kann eine abweichende Verteilung der Freizügigkeitsguthaben vorgenommen werden.
- Dauerhafte Erwerbsunfähigkeit eines Ehegatten: Falls einer der Ehegatten dauerhaft arbeitsunfähig ist oder kurz vor der Pensionierung steht und keine Möglichkeit mehr hat, neue Vorsorgeguthaben aufzubauen, kann das Gericht diesem Ehegatten einen grösseren Anteil der Freizügigkeitsguthaben zusprechen.
- Ungleichgewicht in der finanziellen oder beruflichen Beitragsleistung: Wenn einer der Ehegatten während der Ehe erheblich weniger zu den Vorsorgeguthaben beigetragen hat – z. B. aufgrund einer längeren Abwesenheit vom Arbeitsmarkt aus persönlichen Gründen –, kann dies die Aufteilung beeinflussen.
- Bestehende Vereinbarung zwischen den Ehegatten: Falls die Ehegatten eine abweichende Teilung der Freizügigkeitsguthaben einvernehmlich vereinbart haben und diese Vereinbarung den Grundsätzen der Fairness und Vorsorgegerechtigkeit entspricht, kann das Gericht diese berücksichtigen.
3. Die Entscheidung des Gerichts
Falls ein Antrag auf Abweichung von der hälftigen Teilung gestellt wird, muss das Gericht die wirtschaftliche und soziale Situation beider Ehegatten genau prüfen. Ziel ist es, sicherzustellen, dass die Entscheidung nicht zu einer unangemessenen Benachteiligung eines der Ehepartner führt.
Das Gericht hat einen Ermessensspielraum und kann die Verteilung der Vorsorgeguthaben an die individuellen Umstände des Falles anpassen. Allerdings muss jede Abweichung vom Grundsatz der hälftigen Teilung gut begründet sein und sich auf objektive Kriterien stützen.
4. Praktische Auswirkungen
In der Praxis erfordert die Anwendung von Artikel 124b ZGB oft eine finanzielle Expertise, um den tatsächlichen Vorsorgebedarf der Ehegatten nach der Scheidung zu beurteilen. Die Gerichte berücksichtigen dabei nicht nur die erzielten Einkommen und die angesparten Vorsorgeguthaben, sondern auch die gesamte Vermögenssituation der Ehepartner.
Darüber hinaus muss die Partei, die eine Abweichung von der hälftigen Teilung beantragt, nachweisen können, dass besondere Umstände vorliegen. Andernfalls bleibt die hälftige Teilung die allgemeine Regel.
Fazit
Artikel 124b ZGB stellt eine wichtige Ausnahme vom Grundsatz der hälftigen Teilung der beruflichen Vorsorge im Scheidungsfall dar. Er ermöglicht es dem Gericht, die Aufteilung der Freizügigkeitsguthaben an die wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse der Ehegatten anzupassen, wenn eine hälftige Teilung zu einer unfairen Lösung führen würde. Diese Abweichung unterliegt jedoch der gerichtlichen Beurteilung und muss eine gerechte Lösung für beide Parteien gewährleisten.